| Der Mensch und sein gestörtes Verhältnis zu Tier und Natur aus buddhistischer SichtAnsprache von Herbert Becker zur Morgenandacht der Buddhistischen Gesellschaft Berlin anlässlich der buddhistischen Vesakh-Feier im Radiosender RIAS Berlin (später Deutschlandradio Kultur) am 21. Mai 1989, abgedruckt in Die Kurzinformation (Nr. 38 2/89, S. 25 f.) der Tierversuchsgegner Berlin. Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. 0 Erd, 0 Sonne! 0 Glück, o Lust! Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, mit den eben zitierten Versen begrüßte Johann Wolfgang von Goethe den Monat Mai. Es war die Freude über den Frühling, über die sich entfaltende Natur die Goethe vor etwa 200 Jahren in seinem Maienlied so eindrucksvolle, einfühlsame Worte finden ließ. Diese Worte stimmen uns auf den Frühling ein, auf das Erleben der Natur, welches den Menschen bis in sein Innerstes mit neuer Lebenskraft und Freude zu erfüllen vermag. Solche beglückenden Begegnungen mit der Natur sind jedoch in unserer Zeit zunehmend schwieriger geworden. Denn wer kann sich heutzutage noch ungetrübt an der Natur erfreuen angesichts von Betonlandschaften und Autokolonnen, von Luftverschmutzung, ver- gifteten Böden und Gewässern, von sterbenden Wäldern? Kürzlich las ich den Leserbrief eines 15-jährigen Schülers, der folgendes schrieb: Warum das Gerede über den Krieg? Schaut euch doch um, wir kriegen unsere Erde auch so kaputt! Wie dieser Schüler, so denken sicher viele von uns. Stolz über den erreichten Fortschritt von Wissenschaft und Technik, Zufriedenheit über die Errungenschaften unserer Zivilisation werden immer seltener geäußert. lm Gegenteil, Angst greift um sich - Angst vor einer Entwicklung, die sich mit großen Schritten der Katastrophe nähert. Wir alle wissen: so darf es nicht weitergehen! Aber wie soll es weitergehen? Kann das Unheil noch aufgehalten werden? Das sind Fragen, die wohl jeden von uns bewegen. Von Besuchern des Buddhistischen Hauses in Berlin-Frohnau, besonders von jungen Menschen, werde ich daher oft gefragt, welche Lösungen der Buddhismus für die existentiellen Probleme unserer Zeit anzubieten hat. Der Buddha lehrte, dass das Begehren die Wurzel allen Übels ist. Es äußert sich in allen Lebensbereichen. Der Kampf um Einfluss und Macht ist ebenso Ausdruck von Begehren wie das Streben nach größerem Wohlstand oder die Gier nach wirtschaft- lichem Profit. Vor einiger Zeit wurde der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz gefragt, wie er die intensive Massentierhaltung beurteile. Seine Antwort: Zum Zwecke des finanziellen Gewinns ist sie (die Massentierhaltung) zweifelsohne eines der dunkelsten, schandhaftesten Kapitel der menschlichen Kultur. Wenn Sie jemals vor einer Tiermastanstalt gestanden und gehört haben, wie Hunderte von Kälbern schreien, wenn Sie den Notruf des Kalbes verstehen, dann haben Sie genug von dem Menschen, der daraus Gewinn zieht. Die Empörung von Konrad Lorenz ist durchaus verständlich. Aber sollten wir deshalb einen Menschen aufgeben? Wäre es nicht eher angebracht, auf das Fleischessen zu verzichten? Viele von denen, welche mit Recht die Massentierhaltung ablehnen, verdrängen die Tatsache, dass ihre Nachfrage, dass ihr Begehren nach Fleisch mit zu dieser Tierquälerei beiträgt. Unsere Wünsche", sagt eine chinesische Weisheit, "sind wie kleine Kinder, je mehr man ihnen nachgibt, um so anspruchsvoller werden sie. Was für den Einzelnen im Kleinen gilt, trifft auch für die Gesellschaft im Großen zu. Hier wie dort wachsen die Ansprüche. So wird das Begehren zu einer mächtigen Triebkraft für alle wirtschaft- lichen Aktivitäten und damit auch zur eigentlichen Ursache für die hemmungslose Aus- beutung und Vergewaltigung der Natur. Nicht selten hört man hierzu als Rechtfertigung, dass der Mensch das Maß aller Dinge, die Krone der Schöpfung sei. Deshalb könne er die Natur ganz nach seinen Bedürfnissen nutzen und sich dementsprechend über die Lebensrechte nichtmenschlicher Wesen hinwegsetzen. Der Buddhismus teilt diese Meinung nicht. Aus buddhistischer Sicht ist der Mensch nicht Herrscher über die Natur, sondern ein Teil von ihr. Sein Verhältnis zur Natur ist vielleicht mit einem Baum zu vergleichen, dessen Krone der Mensch ist. Der Baum kann ohne seine Krone existieren. Stirbt aber die Wurzel, so ist der Baum und mit ihm die Krone nicht mehr lebensfähig. Zwischen Mensch, Tier und Pflanze besteht ein innerer Zusammenhang. Das, was alles mit allem verbindet, wird im Zen-Buddhismus durch ein Gleichnis angedeutet: Ein und derselbe Mond spiegelt sich In allen Wassern. Alle Monde im Wasser Sind eins in dem einen einzigen Mond. Der tiefe Sinn dieses Bildes kann nicht mit Worten erklärt, sondern nur meditativ erfahren werden. Die Menschen der Vorzeit lebten noch in engster Gemeinschaft mit der Natur. Sie wussten weit mehr von ihr als wir uns heute vorstellen. Nicht ohne Grund scheuten sie sich, die Natur zu verletzen. Jeder Frevel an ihr musste gesühnt werden. So ist beispielsweise aus Forschungen zur Frühgeschichte bekannt, dass sich Jäger mit Hilfe bestimmter magisch-religiöser Riten von der Schuld zu reinigen suchten, die sie durch das Töten der Wildtiere auf sich geladen hatten. Diese Ahnung, dieses Gefühl von der Heiligkeit allen Lebens scheint - zumindest im Abendland - fast verloren gegangen zu sein. Hierin liegt nach meiner Überzeugung ein wesentlicher Grund für unser gestörtes Verhältnis zur Natur. Liebe Hörerinnen und Hörer, meine Bemerkungen sollen keine Aufforderung sein, zu den Naturreligionen oder Lebensformen unserer Vorfahren zurückzukehren. Selbst wenn wir es wollten, das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden. Der Buddhismus ist eine Religion mit einer Lebenslehre, die sich nicht an weltfremden Utopien, sondern an unserer Wirklichkeit, am hier und heute orientiert. Der Edle Achtfache Pfad, den der Buddha lehrte und vorlebte, führt zur Erlösung vom Leid der Vergänglichkeit. Dieser Pfad wird auch als mittlerer Weg bezeichnet. Er meidet die Extreme, denn weder übersteigertes Konsumdenken noch übertriebene Askese sind für den Menschen heilsam. Die Erfahrung lehrt: Maßlosigkeit nimmt zumeist ein schlechtes Ende. Überall im Leben kommt es darauf an, das rechte Maß zu finden. Wer maßvoll lebt, beschränkt seine Ansprüche. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Das Begehren in uns ist nicht so ohne weiteres abzubauen. Egoistische Denk- und Verhaltensweisen, die tief in unserem Charakter wurzeln, sind schwer zu überwinden. Hierbei bleiben Appelle an die Vernunft und Predigten, die das Gewissen wachrütteln sollen, erfolglos, wenn die eigene Einsicht fehlt. Eigene Einsicht - darauf deutet schon das Wort hin - ist nur durch unmittelbare Anschauung zu gewinnen. Deshalb beginnt der Edle Achtfache Pfad des Buddha mit der rechten Anschauung. Rechte Anschauung - was heißt das? Tue deine Augen auf und gehe zu einem Baum und siehe den an und besinne dich! Diese Worte Jakob Böhmes, eines deutschen Philosophen und Mystikers aus dem frühen 17. Jahrhundert, sind aktueller denn je. Mit unserer Welt stünde es besser, würden mehr Menschen ihre Augen öffnen und sich besinnen. Das ruhige Betrachten der Natur, des Lebens in seinen vielfältigen Erscheinungen kann tiefere Einsichten vermitteln als jahrelanges Studium in Bibliotheken und Hörsälen. Einer meine buddhistischen Freunde berichtete von einem Förster, der viele einsame Stunden auf einem Hochsitz im Walde verbrachte. "Das stille Beobachten der Natur, das Sicheinstimmen in ihren ruhigen Gang, das Wahrnehmen ihres uralten Rhythmus", so schrieb mein Freund, führte dazu, dass der Förster im Laufe der Jahre immer unfähiger wurde, auf das Wild zu schießen. Mehr und mehr wuchs in ihm das Bedürfnis, Leben zu schonen und zu erhalten. Wie sehr die unmittelbare Anschauung unser Denken und Handeln zu ändern vermag, zeigen auch andere Beispiele. So wurden nicht wenige Menschen, nachdem sie einmal das Schlachten von Tieren voll bewusst, gleichsam "Auge in Auge", miterlebt hatten, für den Rest ihres Lebens zu überzeugten Vegetariern. Die bloße Anschauung reichte hier aus, um einen nachhaltigen Sinneswandel zu bewirken. Rechte Anschauung führt zur rechten Erkenntnis. Sie ist die Grundlage der buddhistischen Ethik. Der Buddha wurde einst gefragt, woran man sich bei der verwirrenden Vielfalt einander widersprechender Meinungen und Glaubensrichtungen orientieren sollte. Hierauf gab der Buddha eine Antwort, die in der Religionsgeschichte wohl einmalig ist: Richtet euch nicht nach dem bloßen Hörensagen, nicht nach Traditionen, nicht nach Sammlungen heiliger Überlieferungen, nicht nach Vermutungen und Theorien, nicht nach Erwägungen, die sich auf den äußeren Schein stützen, nicht nach lang gehegten Meinungen und Auffassungen und nicht nach den Worten eines verehrten Meisters! Was ihr hingegen selbst als gut oder schlecht erkannt habt und von Verständigen als heilsam gepriesen oder als unheilvoll verworfen wird, das nehmt an oder gebt auf. Die Lehre des Buddha setzt daher nicht blinden Glauben an Dogmen und Autoritäten voraus, sondern Vertrauen, das auf eigener Einsicht gegründet ist. Doch wie kann es zur Einsicht kommen, wenn wir nicht gewillt sind, unsere Augen zu öffnen? Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, zur Zeit der europäischen Aufklärung, bemerkte Georg Christoph Lichtenberg in einem seiner Aphorismen: Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?” Ich musste an die Worte Lichtenbergs denken, als in meinem Bekanntenkreis die Frage erörtert wurde, ob es ethisch vertretbar sei, Pelzmäntel zu tragen. Pelzmäntel schützen nicht nur vor Kälte, sie dienen seit jeher zur Befriedigung menschlicher Eitelkeit. Wer sich mit einem Pelz schmückt, freut sich darüber und möchte sich diese Freude nicht trüben lassen. Insofern ist es verständlich, dass viele Besitzer von Pelz- mänteln es ablehnen, das Leiden der Pelztiere in den Fallen und Käfigen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Verhalten ist ein Beispiel für eine Lebensphilosophie, bei der es lediglich darum geht, das Leben möglichst ungestört zu genießen, indem man seine Augen vor unbequemen Wahrheiten fest verschlossen hält. Eine solche geistige Einstellung, die sich in allen Lebensbereichen äußert, verhindert jede positive Entwicklung. Deshalb bestand für den Buddha der erste Schritt auf dem Wege zum Heil darin, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Das bedeutet auch, dass wir dem Leid dieser Welt nicht blind gegenüberstehen dürfen. Millionenfaches Leid - seien es Hunger und Krankheit in der Dritten Welt, Völkermord oder das qualvolle Sterben unzähliger Tiere in Versuchslaboratorien - übersteigt in seiner Größenordnung unser Vorstellungsvermögen. Man kann nicht allen helfen, sagte der Engherzige, und half keinem, so hat Marie von Ebner-Eschenbach das Verhalten mancher Mitmenschen gekennzeichnet. Es ist zwar unmöglich, das Leid von Millionen nachzuempfinden, aber dennoch können wir wenig- stens versuchen, uns in die Lage eines einzelnen hineinzuversetzen. Durch ein solches Sich-Hineinversetzen kann es dazu kommen, dass das Leid des anderen so wahrge- nommen wird, als sei es das eigene. Es ist dieses Mitgefühl, welches in uns die Bereitschaft weckt, auch dem uns völlig Fremden spontan zu helfen. So überwindet das Mitleid die Schranken zwischen dem "Ich" und dem "Du" und reißt die hohen Mauern nieder, welche unser Egoismus aufgerichtet hatte. Für Arthur Schopenhauer, dessen Philosophie der buddhistischen Lehre sehr nahe kommt und der sich selbst als "Buddhaist" bezeichnete, war das Mitleid die eigentliche Triebfeder eines wahrhaft selbstlosen Verhaltens. Denn, so schrieb er, grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für sittliches Wohlverhalten ... Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun, vielmehr mit jedem Nachsicht haben, jedem verzeihen, jedem helfen, soviel er vermag ... Die Güte des Herzens (besteht) in einem tiefgefühlten Mitleid mit allem, was Leben hat. In den buddhistischen Pali-Schriften wird die Güte des Herzens, die nicht nur menschliches Leben, sondern alles Lebendige umfasst, "Metta" genannt. Ohne das Bemühen, Metta in sich zu entfalten, muss jede Meditation erfolglos bleiben. Eine solche Meditation würde lediglich eine Angelegenheit des Kopfes und nicht des Herzens sein. Ihr Ergebnis wäre eine bloß theoretische Weisheit, von der Schopenhauer sagte, sie gleiche einer gefüllten Rose, welche durch Schönheit ergötzt, aber keine Frucht ansetzt. Wer Herzensgüte, die Metta, in sich entfaltet und sie mehr und mehr auf alles ausdehnt, was lebt, dem werden, wie es in den alten buddhistischen Texten heißt, "die Fesseln dünn", der löst sich von Egoismus und Selbstsucht und nähert sich Höherem, Göttlichem. Brahmavihara, Göttliche Zustände, nennen es die Pali-Schriften. Der buddhistische Heilige ist die Verkörperung der Metta. Befreit von Hass, Gier und Verblendung, lebt er in Frieden und Eintracht mit sich und seiner Umwelt. So ist die buddhistische Metta seit mehr als 2500 Jahren eine gewaltlose und friedvolle Lösung für die Probleme menschlichen Zusammenlebens, aber auch für das Verhältnis von Mensch und Natur. Gerade unsere Zeit bedarf mehr denn je eines solchen Ideals. Es mag zwar schwer zu verwirklichen sein, doch es bietet unserem Leben eine Orien- tierung. Der Buddha wies dazu den Weg, gehen muss ihn aber jeder selbst - zum eigenen Wohle und zum Wohle aller. Liebe Hörerinnen und Hörer, gestern war der höchste buddhistische Festtag, der Vesakh-Tag. Mit ihm beginnt nach dem buddhistischen Kalender ein neues Jahr, zu dem ich Sie mit dem Wunsch herzlich grüße: Geführt durch Weisheit und erfüllt von edler Freude möge Ihr Leben sein ! Herbert Becker |