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H.B.

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Ahimsa

 

Wenn sich vor meinen Augen
eine Fliege im Spinnennetz verfängt,
oder wenn eine Katze eine Maus in den Krallen hält,
dann drängt es mich, einzuschreiten.
(Ich habe es auch schon getan).

Und jedesmal meldet sich in mir wieder diese eine Frage:
Was ist hier eigentlich los?

Die Spinne saugt die Fliege,
die Amsel pickt die Spinne,
die Katze krallt die Amsel,
der Hund reißt die Katze.

“Nahrungskette”, belehren mich die Biologen,
“Ökologisches Gleichgewicht”, sagen mir die Umweltschützer,
“Reg’ dich nicht auf”, sage ich zu mir selber,
“ist doch alles ganz natürlich!”

Und dennoch:
Tief in meinem Innern gibt es etwas,
das sträubt sich gegen eine solche Natürlichkeit...

“Paß auf, daß du nicht wunderlich wirst”,
warnte vor Jahren eine Freundin, die es gut mit mir meinte,
und vielleicht hätte ich ihre Worte beherzigt,
wären mir nicht auf einer Indienreise die Jainas begegnet.

Die Jainas?
Das ist jene indische Religionsgemeinschaft,
die unserer Reisegruppe den Zutritt zu ihrem Tempel verwehren wollte.
Nicht nur die Schuhe sollten wir ausziehen
(das hätte ja jeder sofort verstanden),
auch Armbanduhren und Hosengürtel mußten abgelegt werden.
Zögernd und unwillig
kamen zwölf Berliner Studenten dieser Aufforderung nach.

Des Rätsels Lösung:
Unsere Schuhe, unsere Armbänder, unsere Gürtel,
sie waren aus Leder,
und kein Stück Leder,
nichts von einem getöteten Tier,
darf in einem Jaina-Heiligtum getragen werden!

Bis heute ist dieses Erlebnis
in mir lebendig geblieben.

Da gibt es Menschen,
die sich nicht abfinden wollen
mit dieser Welt des Fressens und Gefressenwerdens.
Menschen, die sich weigern,
im Dschungel dieses Lebens bedenkenlos mitzukämpfen.  

Verwundert haben wir sie damals befragt
und immer wieder ein und dasselbe Wort zu hören bekommen.
“Ahimsa”.

Was bedeutet dieses Schlüsselwort
ihres so seltenen und so seltsamen Glaubens?
Ganz eindeutig und ganz schlicht:
“Nicht töten und nicht verletzen.”

Jainas sprechen ein Gelöbnis.
“Ich werde kein lebendes Wesen töten oder verletzen,
sei es groß oder sei es klein.”

Wie kann so etwas praktikabel sein
unter Lebewesen, die ihren Hunger stillen müssen,
unter Lebewesen mit Bedürfnissen, mit Wünschen, mit Begierden?

Ahimsa,
das ist das Herz einer fernen Religion,
die mir ganz nahe rückte.
Sacht und behutsam leben,
schonend und schützend,
einfühlend und mitfühlend.
Achtsam einen Fuß vor den anderen setzen,
Schritt für Schritt seinen Weg gehen,
kein Lebewesen mit den Füßen treten,
keine Ameise, keinen Hund, keinen Menschen.

Gehe jeder so weit, wie er kann!
Und morgen vielleicht noch ein Stückchen weiter...

Immer wieder einmal,
besonders in Momenten der Mutlosigkeit,
klingen drei Glaubenssätze der Jainas in mir an.

1.
Tief im Innern eines jeden lebenden Wesens
wohnt eine fühlende Seele.

2.
Alle Seelen sind
auf großer, gefahrvoller Wanderschaft.

3.
Alle sollten wir einander
sanfte und solidarische Weggefährten sein.

 

Joachim Berger